Der alte Baumstamm

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Wer mit offenem Herzen durch den Wald geht, hört wie Bäume Geschichten von lang vergangener Zeit erzählen, die sie von Generation zu Generation weitergeben, über Jahrhunderte, wie der Wind sich an den Stämmen reibt, vergänglich und wiederkommen, dazu murmelnd seine Kommentare abgibt und wie sich Vögel die neuesten Geschichten vorsingen.

 
Alles lebt. Alles?
 

Heute bei meinem Spaziergang, abseits der ausgetreten Wege, dort wo die Büsche noch geschlossen sind und Spinnweben den Weg versperren, hörte ich ein unterdrücktes Stöhnen und leichtes Ächzen, ein stockendes Atmen, ein Geräusch, das anzeigt, es werden bald Tränen fließen. Aber da war kein Tier, kein Baum, kein Vogel, ich sah auch keine Spinne und trotzdem es war da, dieses Ächzen, Schlucken, Stöhnen. Hier war nur ein alter Baumstamm, morsch und bemoost von Wind und Wetter, ausgehöhlt vom Zahn der Zeit, versunken im blutroten Meer der sterbenden Blätter seiner Brüder und Schwestern. Die Geräusche bekamen auf einmal einen Sinn, bildeten Worte, Sätze und Gedanken. Der alte Baumstamm sprach zu sich, er hatte ja sonst niemanden mehr der ihm zuhörte und wünschte sich nur mehr zu verschwinden, von dieser Welt. Er, der nutzlose Platzhalter, der kostbaren Raum belegt, nichts mehr bewegt, jeden Tag etwas mehr stirbt, seit vielen, vielen Jahren, jeden Tag etwas mehr vermodert. Er sprach von der Zeit wo er groß und stark war, stolz erhoben zum Himmel strebte, den er fast erreichte, er der immer wieder seine Samen abwarf und so unzählige neue Generationen entstanden, aus seinen Holz und Pech. Um in standen sie, stolz, aufrecht, zum Himmel wachsend, so wie er einst. Bis eines Tages aus heiterem Himmel, in einem fürchterlichen Unwetter, das Wasser brachte und die dürstenden Wurzeln kaum mit dem Aufsaugen nachkamen, ein Blitz ihn traf, Mitten in seine Krone, der ihn aufriss von oben nach unten und krachend fallen ließ. Da lag er dann, zu Tode verwundet, hilflos, ausgeliefert Wind und Wetter, Nistplatz und Nahrung für Insekten. Er verlor jedes Zeitgefühl, seine Lebensringe haben aufgehört zu wachsen, die Zeit schien stillzustehen. Aber sie stand nicht still, sie nagte an ihm, sie zernagte ihn. Eines Tages kamen Wesen, die wie Bäume aussahen, aber sie standen auf zwei Wurzeln und hatten nur zwei Äste, keine Blätter oder Nadeln, nur ein paar wenige dünne Gräser auf der Krone. Bevor er es versah, trennten sie seinen Stamm von Wurzelstock und machten sich damit auf den Weg. Jetzt hatte er keinen Stamm mehr, keine Krone und seine Äste lagen abgetrennt, zusammengeschichtet, verrottend am Boden. Die Zeit verging und er starb, jeden Tag etwas mehr, er der stolze Baum, der jetzt das nutzloseste, verwesenste Wesen war.

Der Wind trug seine Trauer zu den Bäumen der Umgebung, zu den Vögeln und Spinnen und diese hörten sprachlos die Trauer und die Hilflosigkeit dieses einst so stolzen Baumes, zu dem alle aufgeschaut haben. Da begannen sie zu sprechen und der Wind trug ihre Worte zu dem alten Baumstamm, sie erzählten von seinen Heldentaten, von seiner Größe, dem Schutz und dem Leben das er gespendet hat, über so viele Jahre. Aber sie erzählten auch, wie froh sie sind, dass er noch unter ihnen ist, dass er ihnen jetzt Nahrung mit seinen Körper spendet, Nahrung die unzählige Insekten und Vögel leben lässt und von geschützten Plätzen in seiner Rinde, wo Spinnen sich nach anstrengender Jagd erholen können, im kühlen Schatten, geschützt vor heißen Tagen und kalten Nächten. Möglichst lange soll er noch bei ihnen sein und ihnen jetzt mit seiner Erfahrung helfen, Tag für Tag. Als der alte Baumstamm das hörte, war er kurz still, warm durchlief es seine leeren Gefäße, wie in alten Tagen, er wurde gebraucht, er war wichtig, er konnte helfen, er der alte gefallene Baum.

Er war nicht gefallen um zu sterben, er war gefallen, um jetzt neues Leben zu erhalten.

© 2013 Peter Sereinigg

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